Aufbaudekade Fachpflege
In einem integrierten Gesundheits- und Pflegesystem verantworten Ärzte und Pflegefachkräfte gemeinsam die Patientenversorgung und entscheiden im Tandem über die individuell bestmögliche medizinische und pflegerische Behandlung. Die Partner der Selbstverwaltung und der Gebietskörperschaften planen, organisieren und verantworten im Shared Leadership diese moderne soziale Infrastruktur. Dafür ist eine Aufbaudekade für die Fachpflege unumgänglich, um die notwendige institutionelle Verortung im deutschen Versorgungssystem und die Professionalisierung der Fachpflege nachzuholen.
Unser 8-Punkte-Plan für die Aufbaudekade
1. Spitzenpflege wollen!
Wieso gibt es einen Facharztstandard, aber keinen Fachpflegestandard? Viele Akteure, die häufig selbst nicht in der Pflege tätig sind, machen sich dafür stark, den „Pflegenotstand“ zu beheben, und folgen dabei dem Leitbild eines pflegerischen „Satt und Sauber“ statt einer hochqualifizierten Pflegefachlichkeit mit klinischer Expertise. Spitzenpflege ist obligatorisch für ein Gesundheits- und Pflegesystem, das uns sorgend trägt. Die Personen, die Spitzenpflege ausüben, arbeiten eigenständig und bringen ihre klinischen Kompetenzen aktiv ein – so wird es im Ausland seit mehreren Jahren eindrücklich gelebt. Sie kooperieren mit Angehörigen der anderen Gesundheitsfachberufe und entscheiden eigenverantwortlich über die Patientenversorgung – und das funktioniert auch ohne „Vormund“ in Form eines Arztvorbehalts oder einer Pflegebedürftigkeitsprüfung. Erst wenn wir in Deutschland eine Spitzenpflege wirklich wollen, kann sie auch hierzulande auf- und ausgebaut werden.
2. Clinical Leadership durch Pflege im Krankenhaus
Klinisch-pflegerisch tätige Pflegefachpersonen nehmen als Clinical Leader auf den Stationen das Steuerrad der Versorgung in die Hand, ausgehend von Screenings, Einschätzungen des Patientenzustandes und Monitoring der Patientinnen und Patienten. Sie sind die zentrale Verbindungsstelle zu allen anderen an der Versorgung Beteiligten – ob im Krankenhaus, in den Reha-Kliniken oder ambulant, sie sind Dreh- und Angelpunkt v. a. zu Ärztinnen und Ärzten, Therapeutinnen und Therapeuten, zu Patientinnen und Patienten sowie den Angehörigen und zu den vielfältigen sozialen Diensten. Die fachpflegerischen Leistungen der Diagnose, Intervention und Ergebnisqualität werden mit einem datengestützten Klassifikationssystem abgebildet. Die Fachpflegekräfte arbeiten in Form eines Skill-Grade-Mixes auf Basis ihres unterschiedlichen Qualifikationsniveaus und der daraus abgeleiteten Tätigkeiten. Dies ermöglicht auch ein intrapflegerisches Delegationsmodell für examinierte Pflegefachpersonen an Pflegehelfer und Helferinnen sowie Assistenzpersonal, innerhalb als auch außerhalb des stationären Settings.
3. Tandem-Versorgung Arzt & Pflege in regionaler Care Share Ökonomie
Arzt und Pflegefachkraft bilden nach dem Vorbild einer Verkehrsorganisation eine regional gut erreichbare und zuverlässige zentrale Versorgungslinie. Sie erbringen ihre ärztlichen und pflegerischen Tätigkeiten barrierefrei, Hand in Hand und heilkundekooperativ auf Grundlage eines Tandem-Vertrags. Die Tandems steuern die Chronikerversorgung nach etablierten Versorgungspfaden, in denen sie gemeinsam mit Fachärztinnen und Fachärzten, Fachpflegepersonen, Therapeutinnen und Therapeuten sowie kommunal-sozialen Diensten zusammenarbeiten.
Ein regionaler Netzfahrplanvertrag zwischen den Tandems und der Kommune ist die Grundlage für die Tandem-Versorgung und gewährleistet, dass eine integrierte Versorgung geplant und sichergestellt werden kann. Ärztliche, pflegerische und therapeutische Bedarfe und Ressourcen werden sozialraumbezogen und unter Beachtung der regionalen epidemiologischen Erkenntnisse und der jeweiligen regionalen Bevölkerungs- und Mobilitätsentwicklung geplant. Kommunale integrierte Datenzentren sowie digitale Planungsplattformen, mit denen die Tandemversorgung wie v. a. Hausbesuche effizient geplant werden können, werden aufgebaut. Hierfür müssen die alten Kollektiv- und Selektivverträge aus SGB V (Krankenversicherung) und SGB XI (Pflegeversicherung) „flurbereinigt“ werden. Das bedeutet v. a. eine Ablösung des Bundesmantelvertrags Ärzte mit dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (BMV/EBM), der Gebührenordnung Ärzte (GOÄ), der Verträge zur Häuslichen Krankenpflege (HKP) und der Verträge für die SGB XI-Pflege. Damit die alten Verträge durch neue Tandem- und Netzfahrplanvertrag ersetzt werden können, müssen die Kommunen rechtliche Kompetenzen zur Gestaltung der Gesundheitsversorgung erhalten. Ärztliche und fachpflegerische Einzelleistungen werden über Single-Leistungskataloge abgebildet. Die Partner der Selbstverwaltung und die kommunalen Gebietskörperschaften bilden eine neue Shared Leadership-Einheit für den Vertragsschluss.
4. Das Aufbaudekadengesetz
Fachpflegerische Leistungen sind derzeit als historisch gewachsene Lose-Blatt-Sammlung aus unterschiedlichen Einzelregelungen verschiedener Gesetze, Richtlinien, Rahmenempfehlungen und Rahmenverträgen sowie (länder-)spezifischen Qualitäts-, Honorar- und Abrechnungsregeln aus SGB V (Krankenversicherung) und SGB XI (Pflegeversicherung) „wild“ gewachsen. Da fachpflegerische Diagnosen und Interventionen in Inhalt und Form nicht adäquat erfasst werden, stehen sie nicht für eine datengestützte Auswertung im Rahmen eines Versorgungsmonitorings oder einer Versorgungsforschung und auch nicht für Honorarverhandlungen mit den Kostenträgern zur Verfügung. Daten aus den KIS-Systemen der Krankenhäuser und Abrechnungsdaten der Pflegedienste für Häusliche Krankenpflege (HKP) oder SGB XI-Pflege sind für diese Zweck unbrauchbar. Die Fachpflege muss deshalb mit einem eigenen Sozialgesetzbuch, dem Aufbaudekadengesetz, kodifiziert werden, sodass sie überhaupt erstmal eine für alle erkennbare Form erhält. Das Aufbaudekadengesetz beinhaltet:
1) Den Ethikkodex des ICN (International Council of Nurses) als Berufsfundament
2) Die institutionellen Akteure, die für die Fachpflege zuständig sind wie v. a.:
- Die Pflegekammern, die die Aus-, Fort- und Weiterbildung, Qualitätssicherung und die Berufsordnung verantworten,
- Den Deutschen Pflegerat als stimmberechtigtes Mitglied im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA),
- Die Fachpflegeverhandlerteams für die Honorarverhandlungen mit den Kostenträgern und
- Das Bundespflegeinstitut.
Diese überwiegend noch zu etablierenden Akteure entwickeln Kostenstrukturanalysen ambulanter und stationärer Pflegeanbieter und führen diese durch. Sie sind daran beteiligt, Personalbemessungsinstrumente in der stationären und ambulanten Pflege sowie ein datengestütztes Klassifikationssystem für eine zeitgemäße transparente Erfassung fachpflegerischer Diagnosen (z. B. NANDA), fachpflegerischer Interventionen (z. B. NIC) und fachpflegerischer Ergebnisqualität (z. B. NOC) zu entwickeln und einzusetzen.
5. Unsere Pflege gehört uns!
Die oft zitierte Systemrelevanz der Pflege steht in einem krassen Widerspruch zur allgegenwärtigen Bevormundung, die eine Folge der historisch-institutionellen "Nicht-Verankerung" in der Selbstverwaltung ist. Die Politik sieht das tradierte deutsche System der Selbstverwaltung bislang als beste Lösung an, indem die Gesundheitsberufe selbst am sachkundigsten über ihre Versorgungsangelegenheiten beraten können und nicht andere fachfremde Akteure über ihre Köpfe hinweg entscheiden. Für die Fachpflege als größte Berufsgruppe in der Gesundheitsversorgung gilt dies jedoch bis heute immer noch nicht.
Es ist höchste Zeit, dass die Fachpflege die Geschicke ihres Berufes selbst regeln kann. Dafür braucht sie eine gleichberechtigte Mitwirkung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und in den wichtigen Bundes- und Landesgremien, die bislang oft nur mit Vertretern und Vertreterinnen der Ärzteschaft und Krankenkassen besetzt sind. Zugleich sind Pflegekammern zu etablieren, die eine Berufsordnung, die Aus-, Fort- und Weiterbildung als auch die Qualitätssicherung der Leistungserbringung sichern. Darüber hinaus müssen Fachpflegeverhandlerteams etabliert werde, die die Honorarverhandlungen mit den Kostenträgern übernehmen. Derzeit führen „Pflegeverbände“, die Arbeitgeberverbände und Trägereinrichtungen sind und deren Ziele nicht zwingend die der Fachpflege sind, die Honorarverhandlungen mit den Kostenträgern.
Ein zu etablierendes Bundespflegeinstitut übernimmt vor allem statistische Aufgaben, erhebt Kostenstrukturanalysen ambulanter und stationärer Pflegeanbieter und führt einen offenen Diskurs mit Wissenschaft, Versorgungspraxis und Politik über Personalbemessungsinstrumente, Versorgungsszenarien und übergeordnete Honorar- und Vertragsfragen.
6. Skilling me softly!
Die deutsche Fachpflege ist im internationalen Ranking als Assistenzberuf und nicht als eigenständig handelnde Profession klassifiziert. Das liegt daran, dass Fachpflege überwiegend als Berufsausbildung an Pflegeschulen und nicht – wie in vielen anderen Ländern – als akademische Ausbildung an Hochschulen angelegt ist. Weniger als ein Prozent der Pflegefachpersonen werden in Deutschland akademisch ausgebildet. In Ländern wie Dänemark, Norwegen, Irland, Portugal, Spanien, UK, Australien, USA und Kanada zeigt die Fachpflege ihr Management – und klinisch-pflegerisches Potenzial. Fachpflegerische Leistungen werden dort zumeist durch gesetzlich definierte autonome Aufgabenbereiche unterstützt. Somit sind ebendort viele Modellprojekte, die in Deutschland aktuell unter dem Begriff der Heilkundeübertragung nach § 64d SGB V gefördert werden sollen, längst obsolet. In Deutschland fehlt ein Scope of Practice, ein Verständnis für Pflegefachberufe und fachpflegerische Leistungen, weshalb es Politikerinnen und Politikern schwerfällt, den Sinn der Akademisierung zu erkennen und adäquate Stellenprofile durch zeitgemäße Versorgungsstrukturen zu schaffen.
Aufgrund fehlender Pflegekammern existiert keine geregelte Fort- und Weiterbildung, sondern ein intransparenter und aus Sicht des Patientenschutzes gefährlicher Zertifikate-Dschungel über erworbene vielfältige Zusatzqualifikationen. Eine zielgerichtete Fort- und Weiterbildung, die für die Ärzteschaft in Form der Ärztekammern selbstverständlich sind, ist insbesondere nach der generalistischen Ausbildung unerlässlich. Es ist ein durchlässiges Bildungssystem von der akademisierten Pflegefachperson bis zur Assistenzkraft innerhalb der Pflegeberufsabschlüsse geboten, denn nur so können Kompetenzen und Tätigkeiten klar zugeordnet und ein klares intrapflegerisches Delegationsmodell von der examinierten Pflegefachperson an Helfer- und Assistenzkräften gelebt werden.
Ein zu entwickelndes modernes Gesundheitsberufegesetz muss den bis heute dominierenden Heilkundebegriff mit der ärztlichen Allzuständigkeit ablösen, fordert zeitgemäßes interprofessionelles Versorgen ein und definiert dafür die Tätigkeiten und Voraussetzungen aller Gesundheitsberufe.
7. Fachpflege unbezahlbar?
Pflegesituationen sind höchst komplex. Der Zusammenhang zwischen Pflegekompetenz und Pflegequalität in Bezug auf settingbezogene Personalbedarfe ist in Deutschland unbekannt. Fachpflege hat ihr volles Potenzial bislang nicht zur Geltung bringen können, weshalb es auch keine adäquate Methodik gibt, die diese komplexen Zusammenhänge bewertet. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff und darauf aufbauende Berechnungen sind ebenso ungeeignet wie die PPR 1.0 und 2.0. für den Krankenhausbereich. Grundsätzlich sollten Angehörigen- und Fachpflege durch die Anwendung des Aufbaudekadengesetzes auseinander und ihre Finanzierungsgrundlagen getrennt voneinander diskutiert werden. Die Wirksamkeit der Fachpflege, die sich in anderen Ländern durch eine positive Beeinflussung bei Morbidität, Mortalität und Komplikationsraten zeigt, muss eingepreist werden, ebenso der richtige Skill-Grade-Mix. Fachpflege als Teil eines regionalen Versorgungstandems ist über neue Mischfinanzierungsmodelle aus Beitrags- und Steuermitteln zu finanzieren. Refinanzierungspotenziale liegen neben der Care Share Ökonomie des Tandemmodells in der Neuentwicklung ärztlicher Vergütungssysteme sowie in der Ablösung der Pflegebedürftigkeitseinstufung durch den Medizinischen Dienst (MD) als dann obsolete Doppelstruktur. Die modernen datengestützten Verträge ermöglichen eine konsequente Ausrichtung der Versorgung an Evidenz. Ein offener Methodendiskurs zwischen Politik, Wissenschaft und Pflegepraxis statt einseitiger Gutachtenvergaben ist notwendig, um das Profil der Fachpflege zu erfassen. Erst dann können valide Vergütungs- und Finanzierungsfragen beantwortet werden.
8. Change: Transformation durch "Sandbox-Regionen"
Wenn eine neue Software in ein bestehendes Computersystem überführt werden soll, läuft sie zum Schutz des alten Betriebssystems zunächst in einer „Schutzzone“, der sogenannten „Sandbox“. Die neue Anwendung läuft technisch auf dem Echtsystem, das zugleich vor unvorhergesehenen Wechselwirkungen geschützt ist. Nach diesem Vorbild ist ein Sandbox-Innovationsgesetz erforderlich. Dadurch müssen bestehende Gesundheitsregionen systematisch als Reallabore eingesetzt werden, um eine sektorenübergreifende, interprofessionelle und sozialraumbezogene Versorgung nachhaltig „von unten“ zu entwickeln. Eine neue komplexe Versorgungsorganisation wie die Tandem-Versorgung kann nicht am grünen Tisch im traditionellen Verwaltungsmodus oder Expertenkommissionsgruppen entstehen, sondern muss durch neue Methoden der agilen Struktur- und Rechtsentwicklung zum Leben gebracht werden. Experimentier- und Öffnungsklauseln müssen den Sandbox-Protagonisten rechtlichen Freiraum gewähren, Verfahrensanordnungen und versorgungswissenschaftliche mehrperspektivische Rechtsbegleitung sichern diesen Raum ebenso ab wie eine stabile wissenschaftliche Begleitung. Die Entwicklung und das Einleben moderner Governance- und Partizipationsformen erfordern gesundheitsökonomische und versorgungsprozessbasierte sowie politik- und sozialwissenschaftliche Evaluationen.
In Deutschland gibt es inzwischen viele Gesundheitsregionen, die sich auf den Weg gemacht haben, um ihre Versorgung vor Ort neu zu organisieren. Seit Jahrzehnten werden viele Fördermillionen und Fördermilliarden für Forschungs- und Modellprojekte zur sektorenübergreifenden Versorgung aufgewendet. Leider scheitern alle Initiativen daran, dass es keinen politischen Willen zur wirklichen strukturellen Systemänderung gibt, die Projekte sind nach Abgabe des Abschlussberichts beendet aufgebaute Strukturen fallen in sich zusammen. Der Innovationsfonds der Gesetzlichen Krankenversicherung (§ 92a SGB V) ist als großes neues Förderinstrument zu einer systematischen Innovationsinfrastruktur weiterzuentwickeln, wie der Bundesverband Managed Care sie in seinem aktuellen Paper zeichnet.
Sandboxes dürfen von der Politik nicht als Projekt mit begrenzter Laufzeit gesehen werden. Sandbox-Regionen geben keinen Abschlussbericht ab, sie entwickeln sich langfristig als neue Zukunft, die anderen Regionen voraus sind und ein Fortschrittsjahrzehnt wagen.