Der kommunale Bizeps
Oder: Die Gesundheitsversorgung wird vor Ort gemacht
"Viele sogenannte Partizipationsprogramme von Gebern, Regierungen oder Nichtregierungsorganisationen bestehen vorwiegend aus Sitzungen. Sie zielen kaum darauf ab, die Verantwortung wirklich an die Betroffenen zu übertragen."
Elinor Ostrom,
aus „Was mehr wird, wenn wir teilen.
Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter."
Die Erkenntnis, dass die kommunale Ebene als Gesundheitsregion mehr Verantwortung und Mitsprache bei der Organisation der Gesundheits- und Pflegeversorgung benötigt als bislang, ist schon lange da. Finden die Menschen vor Ort keinen Arzt oder Pflegedienst mehr, bitten sie ihre Bürgermeister oder Landrätinnen um Hilfe. Diese haben jedoch schon rechtlich keine wirkliche Handhabe, um das Problem zu lösen. Bislang ist der Bizeps der ambulanten Gesundheitsversorgung das SGB V, die Krankenversicherung, die ihre Muskeln als Bundesrecht zeigt. Dabei ist es ein Unterschied, ob die Bundesebene im Gemeinsamen Bundesausschuss über neue Medikamente sowie Untersuchungs- und Behandlungsmethoden entscheiden muss oder, ob es um eine integrierte und interprofessionelle Gesundheits- und Pflegeversorgung geht, die vor Ort „passen“ muss. Auch die Pflege hat überwiegend bundesrechtliche Muskeln, denn mit der Pflegeversicherung wurde vor allem die Altenpflege aus der kommunalen Zuständigkeit in die Höhen landes- und bundesrechtlicher Vorschriften gehoben. Es gibt mannigfaltige Modellprojekte und Förderprogramme* für eine zukunftsfähige Regionalentwicklung zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Diese bleiben seit jeher Schattenboxen, weil sie ohne rechtliche Anpassungen im Grundgesetz sowie Bundes-, Landes- und Kommunalrecht bleiben. Eine Versorgungsmoderne kann nicht auf ausgetretenen Pfaden entstehen. Gesundheitsregionen müssen der kommunale Bizeps der Versorgung werden und brauchen dafür ein neues Gesundheitsrecht, das allen Stakeholdern eine schulterbare Verantwortung gibt.
Verweise
Gemeinsam für mehr Lebensqualität. (bundesregierung.de)
Gesundheitsregionen plus – Entscheidungen vor Ort treffen (bayern.de)
Gesundheitsregionen Niedersachsen | Nds. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
Wow! Die Alpenlandschaft des § 8 SGB XI. Der kommunale Bizeps (1/5)
In einem Sozialkaufhaus werden alte Puzzles abgegeben und eine ältere, dort ehrenamtlich tätige Dame, puzzelt jedes Puzzle durch, um zu prüfen, ob auch alle Teile da sind. Hin und wieder prangt eine atemberaubende Alpenlandschaft auf den Kartons. Doch beim Puzzeln stellt sich heraus, dass Teile fehlen oder nicht zu diesem Puzzle gehören. So ist es nicht möglich, die Alpenlandschaft fertig zu puzzeln.
Der § 8 SGB XI (Pflegeversicherung) „Gemeinsame Verantwortung“ ist ein solches Puzzle einer Alpenlandschaft: „(1) Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. (2,1) Die Länder, die Kommunen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen wirken unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes eng zusammen, um eine leistungsfähige, regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander abgestimmte ambulante und stationäre pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.“
Allerdings kann und wird das so in der Praxis nicht umgesetzt, weil die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Selbstverwaltungsträgern sich wie Puzzleteile aus unterschiedlichen Puzzles zueinander verhalten oder einzelne Puzzleteile gänzlich fehlen. Die Pflegekassen sollen eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse entsprechende pflegerische Versorgung der Versicherten gewährleisten. Die Bundesländer und Kommunen verantworten hingegen die Pflegeinfrastruktur. Insbesondere bei der „Bevorratung“ der Infrastruktur fehlen viele Puzzleteilchen: So gibt es zumeist keine Pflegeplanung und keine regional organisierte Steuerung der Versorgung und keine gemeinsame Verantwortung. So besuchen Ärzte z.B. Heime nicht, da diese auf „grünen Wiesen“ gebaut werden können, ohne dass Bauherren im Vorwege die Möglichkeiten der ärztlichen Versorgung sicherstellen müssen. Das SGB XI kann keine Alpenlandschaft bieten. „Pflegereformen“ werden immer nur neue Puzzleteile sein, die nicht passen und Lücken lassen.