Die arme Majestät
Oder: Das deutsche Gesundheitssystem braucht eine neue Organisationsstruktur.
"Wirklich schlimm ist es erst dann um ein Herz bestellt, wenn nicht mehr in Vergleichen und Bildern von ihm gesprochen wird, wenn die Metaphern sich von ihm zurückziehen, wenn von seinen Bewegungen auch die kühnen und großartigen unerheblich geworden sind, und nur noch die messbaren, die rein mechanischen etwas bedeuten, wenn es auf seine Melodien gar nicht mehr ankommt, nur noch auf den nackten Rhythmus…gerade in solcher Stunde, wenn es nur noch ein klägliches, verheddertes Maschinchen ist, dem kein Öl mehr hilft…gespenstig schimmernd im Phosphorlicht des Lebens, ist es wie zwischen üppigem Gesindel ein arme Majestät."
Alfred Polgar, aus „Traktat vom Herzen“
Den nackten Rhythmus kennen Patienten und Patientinnen als auch Versorgende, in dem die Menschlichkeit – die Melodie – verloren geht. Das deutsche Gesundheitssystem ist mit seiner enormen medizinischen Leistungskraft, dem rasanten Fortschritt, insbesondere an den Universitätsklinken, sowie seiner weitestgehenden solidarischen Finanzierung, die den Menschen ein hohes Maß an Versorgung sichert, eine Majestät. Doch diese Majestät ist arm, denn es mangelt an der dringlich notwendigen strukturellen Modernisierung der Versorgungsinfrastruktur. So gleichen die Gesundheitsreformen der letzten 40 Jahre in Deutschland denen der Bundesbahn: hier und da wird etwas ausgebessert, damit der „Substanzfraß“ an der Schiene den Verkehr nicht vollends zum Erliegen bringt. Zweifellos ist die Organisation der Versorgung eine gewaltige Aufgabe und sie kann nur mit einem klaren übergeordneten politischen Ziel umgesetzt werden. Dieses Ziel muss lauten: ein integriertes Gesundheitssystem als moderne und „barrierefreie“ Versorgungsinfrastruktur. An diesem Ziel sind die Reformmaßnahmen auszurichten.
Das zweibeinige System: Die arztzentrierte Versorgungsstruktur muss durch eine interprofessionelle abgelöst werden.
Unser Gesundheitssystem steht auf einem Bein, und zwar dem ärztlichen. Es steht sich nicht gut auf einem Bein. Die Folge: Das System wird überlastet, verliert sein Gleichgewicht und droht zu fallen. Die seit 1900 historisch gewachsene Arztzentrierung in der Versorgungsorganisation ist die „Einbeinigkeit“ des Systems. Die Systemsprache ist binär: „ärztlich“ und „nicht-ärztlich“. Noch heute wird die ambulante Versorgung mit „ärztlicher“ Versorgung gleichgesetzt. Bedarfsplanung gibt es hier ausschließlich nur für ärztliche Kapazitäten. Der Arztvorbehalt regelt nach wie vor ob, wann und was andere Gesundheitsberufe machen dürfen. Über reale Macht verfügen im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) seitens der Gesundheitsberufe nur Ärzte. In vielen Gremien auf Bundes- und Landesebene fehlen Angehörige „nicht-ärztlicher“ Gesundheitsberufe wie v. a. auch die Pflege. Ärztliche Diagnosen werden seit über 30 Jahren durch die ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) codiert, für die Fachpflege gibt es bis heute keine „Datensprache“, fachpflegerische datengestützte Klassifikationssysteme wie z. B. NANDA sind in Deutschland unbekannt. Für Therapeutenberufe gibt es zwar die ICF (International Classification of Functioning and Health), doch sie wird nicht regelhaft eingesetzt und ist dem größten Teil der Ärzteschaft unbekannt. Die Konsequenz: Es kann nur lückenhaft abgebildet werden, welche Auswirkungen z. B. eine ICD G35.3 Multiple Sklerose mit sekundär-chronischem Verlauf auf das Leben eines Patienten hat, weil – salopp gesprochen – Ärzte mit Datencodes schreiben und alle anderen mit Bleistift.
Deutschland braucht ein Gesundheitssystem, das sicher auf zwei Beinen steht: einem ärztlichen und einem pflegerischen, denn es ist die Fachpflege, die Interprofessionalität verwirklicht.
Melodie statt nackten Rhythmus: Chronisch Kranke nach Versorgungspfaden und nicht im Quartalsstakkato begleiten.
Chronische Erkrankungen dominieren heute das Versorgungsgeschehen. Sie sind wie eine Bergwanderung und erfordern vom Versorgungssystem eine gute Bergführung. Für die Bergführung kann im ambulanten Bereich, also „im Leben“ der Patienten und Patientinnen, die Hausarztpraxis nicht mehr alleine zuständig sein. Der Ebbe- und Flut-Rhythmus am Anfang des ärztlichen Abrechnungsquartals spült die Patientinnen und Patienten in die Praxen, die ihre Überweisungen für die Facharztbesuche oder Verordnungen für die „sonstigen Leistungserbringer“ wie Pflegedienste und Therapeuten abholen. Dabei halten sich Krankheiten gar nicht an Quartale. Das „Quartal“ ist nur ein Abrechnungsmodus, das mit der Kraft einer Naturgewalt zu einem vermeintlichen medizinischen Versorgungskonzept „mutierte“.
Das ärztliche ambulante Honorarsystem mit seinen beiden Armen für gesetzlich und privat Krankenversicherte entwickelte sich auf Grundlage ärztlicher Gebührenordnungen, die im Mittelalter entstanden. Die Gebührenordnungen formten sich im Wechselspiel mit den Krankenkassen zu einem System. Mangels Therapiemöglichkeiten konnten vor über 100 Jahren vorrangig nur akutmedizinische Anlässe, wie z. B. nach einem Unfall, behandelt werden oder es wurde ein Krankengeld bei Lohnausfall gezahlt. Die langjährige Begleitung einer psychischen Erkrankung, eines Diabetes oder eines Krebsleidens, die eine Verbindung zwischen medical und social care benötigt, stand nicht auf der Tagesordnung. Auch ein interprofessionelles Arbeiten, das durch den medizinisch-pflegerisch-therapeutischen Fortschritt und die Digitalisierung heute möglich ist, war undenkbar.
Die Tandem-Versorgung mit ihren Chronikermodulen sieht eine interprofessionelle Bergführung nach Patientenpfaden vor. Hierbei folgt der orchestrierte Einsatz der Versorgenden dem Rhythmus der Krankheit und den Bedürfnissen und Zielen des zu versorgenden Menschen. Dafür müssen die alten Versorgungsverträge mit ihren Vergütungssystemen umgebaut werden.
Den Elefanten aus dem Raum lassen: Neue Vergütungsvereinbarungen müssen vor allem die alten ärztlichen ambulanten Honorarsysteme ablösen.
Der „Elefant im Raum“ ist eine Metapher für ein offensichtliches Problem, das jedoch niemand ansprechen möchte. Der Elefant im Modernisierungsraum der Gesundheitsversorgung ist das ärztliche ambulante Honorarsystem. Zahlreiche Gutachten zur Zukunft des Gesundheitswesens belegen, dass die Versorgung sektorenübergreifend, integriert, vernetzt, evidenzbasiert und datengetrieben gestaltet werden muss und das geht nicht ohne neue Versorgungsinfrastrukturverträge.
Der Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV) mit seinem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) und die Gebührenordnung Ärzte (GOÄ) sind die bisherige Infrastruktur und Kommandohöhe der ambulanten Versorgung. EBM und GOÄ sind sich in ihrer Natur ähnlich und wurzeln noch heute in den Medizinaltaxen des Mittelalters sowie der Preußischen Gebührenordnung. Überwiegend ärztliche Einzelverrichtungen werden im EBM und in der GOÄ anhand von Gebührenordnungspositionen (GOP) beschrieben und bepreist. Allerdings sind die Voraussetzungen für die Leistungserbringung, deren Qualität und Vergütung sowie die Direktiven an die nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe, wenig transparent und gleichem einem Dickicht: Aktuell gibt es im EBM etwa 2.500 GOP für die gesetzlich Krankenversicherten, die hier etwa 90 % der zu Versorgenden ausmachen, und in der GOÄ ca. 2.800 GOP für die restlichen 10 % der zu Versorgenden mit einer privaten Krankenversicherung. Im Jahr 2020 erstellte die Bundesärztekammer erstmals seit 1983 ein grundsätzlich überarbeitetes Leistungsverzeichnis für die GOÄ mit 5.500 neuen GOP.
Die Parallelität der Systeme EBM und GOÄ, die der breiten Bevölkerung unter dem Label „Kassen- oder Privatpatient“ vertraut ist, als auch jedes der beiden Vergütungssysteme in sich, gelten seit Jahrzehnten als „überholt“. Sie sind intransparent, hochbürokratisch und setzen vor allem durch die unzureichende Evidenzausrichtung falsche Versorgungsanreize, insbesondere zuungunsten der zeitintensiven Behandlung chronisch Erkrankter. Der starke Verrichtungsbezug und die ärztliche „Über-Hierarchie“ haben die Sektoralität, das Drängen nach Quantität und Monodisziplinarität bis zur Reformunfähigkeit zementiert.
Kernpunkt einer modernen Versorgung ist ein neues Vergütungssystem, auch mit Blick auf eine Anschlussfähigkeit der bereits in Gang gesetzten Krankenhausstrukturreform. Der Widerstand großer Teile in der niedergelassenen Ärzteschaft ist bekannt, doch der Elefant muss aus dem Raum, wenn vor allem auch Ärzte und Ärztinnen in modernen Versorgungsstrukturen patienten- und nicht mehr abrechnungsorientiert arbeiten wollen.
Flurbereinigung der alten Vertragslandschaft: Smarte Tandem-Verträge lösen Wirrwarr der nebeneinander existierenden Kollektiv- und Selektivverträge ab.
Die hausärztliche Versorgungsorganisation wird schon längst nicht mehr den zunehmenden komplexen medizinischen, pflegerischen, therapeutischen und sozialen Anforderungen und dem medizinischen Fortschritt gerecht. Deshalb unternahm die Politik seit Mitte der 1990er Jahre erste Reformansätze, die jedoch vorrangig finanzieller und nicht struktureller Art waren. So wurde um das bestehende Kollektivsystem ein zusätzliches, wettbewerblich ausgerichtetes selektivvertragliches „Bypass-System“ gelegt, anstatt ein durchgängig modernes Honorarsystem zu entwickeln. Krankenkassen konnten nun geeignete Leistungserbringer suchen, mit denen sie u.a. auf freiwilliger Basis moderne Versorgungsverträge jenseits des Kollektivvertrages schließen konnten und noch heute können, wie z. B. Modellprojekte (§ 63 / 64 ff SGB V), Strukturverträge (73 a SGB V), Facharztverträge (73 c SGB V), Disease Management Programme (DMP 137 f SGB V) oder die Integrierten Versorgungsverträge (140a SGB V). Zudem wurden die Hausärzte in ihrer Koordinationsrolle über Hausarztverträge (HzV § 73 b SGB V) finanziell gestärkt und die Delegation erhielt mit der Delegationsvereinbarung und der NäPa-Fortbildung (Nicht-Ärztliche Praxisassistentin) für die Medizinischen Fachangestellten (MFA) eine stärkere Bedeutung. Es wurde ein neues Abrechnungskapitel (Kap. 37 EBM) für Ärzte und Ärztinnen eingeführt, um die Versorgung der Pflegeheimbewohner und Pflegeheimbewohnerinnen mittels einer Kooperationsvereinbarung (§ 119b SGB V) zwischen den Arztpraxen und den Pflegeheimen zu stärken. Zusätzlich baute die Pflegeversicherung die Pflegeberatung u. a. mit Pflegestützpunkten auf (§ 7a SGB XI) und im Krankenhausbereich wurde das Entlassmanagement Pflicht.
Bürokratisierung, Intransparenz, Abgrenzung und Honorarverteilungskämpfe haben zugenommen. Nach wie vor sind Patienten und Patientinnen bzw. ihre Angehörigen die Manager und Managerinnen ihrer Versorgung. Alle sind mit einem Regelungsdickicht konfrontiert und überfordert, das vom „System“ selbst geschaffen wurde. Eine Flurbereinigung der Kollektiv- und Selektivverträge ist unumgänglich. Eine smarte Tandem-Versorgung mit ihrem Tandem-Vertrag und den daran gebundenen Chronikermodulen sowie einem regionalen Netzversorgungsvertrag mit der Kommune muss in den Sandbox-Regionen konzeptionell umgesetzt werden, sie ist zu simulieren, zu modellieren, zu pilotieren und begleitend zu evaluieren, bevor sie bundesweit mit einem langfristigen Fahrplan skaliert wird.
Straßenverkehrsordnung und Netzfahrplan: Tandem-Verträge sichern eine intersektorale und interprofessionelle Versorgung.
Fahrschüler lernen zunächst das Auto zu bedienen und erlernen unmittelbar im Straßenverkehr mit anderen Verkehrsteilnehmenden das Führen des Fahrzeugs auf Grundlage einer Straßenverkehrsordnung. Auch die Ausübung eines Gesundheitsberufs wird zunächst durch Studium oder Lehre – übertragen gesprochen - auf einem Fahrschulhof erlernt, doch das „Fahren“ in der Gesundheitsversorgung findet überwiegend ohne eine Straßenverkehrsordnung für verbindliche intersektorale und interprofessionelle Zusammenarbeit statt. Darüber hinaus gibt es auch keine Straßenkarte oder Netzfahrplan, der allen zeigt, wo welche Versorgung „fährt“.
Die Tandem-Versorgung ist nach dem Vorbild einer Verkehrsorganisation angelegt: Wie in einem öffentlichen Verkehrssystem gibt es eine zentrale, verlässliche Verkehrslinie, die von überall gut erreichbar ist und die verschiedene Regionen in regelmäßigen und kurzen Zeitabständen verbindet. Diese zentrale Verkehrslinie ist in der Tandem-Versorgung der Tandem-Vertrag zwischen der Hausärzte- und Pflegefachschaft. Für die Versorgung der Menschen mit chronischen und komplexen Erkrankungen gibt es zudem weitere spezifische Verkehrslinien – sprich Chronikervertragsmodule - in Form von Patientenpfaden mit indikationsspezifischen, evidenzbasierten, fachärztlichen, fachpflegerischen und therapeutischen „Haltestellen“.
Ein regionaler Netzfahrplan bildet alle Linien ab und wird als „Netzvertrag“ zwischen der Kommune und dem Tandem-System abgeschlossen. Der „Netzvertrag“ regelt, wie die Zusammenarbeit geplant und sichergestellt wird, und definiert die Standards der Zusammenarbeit. Die neue Straßenverkehrsordnung und der Netzfahrplan sind für eine intersektorale und interprofessionelle Versorgung essenziell. Für die Umsetzung werden moderne Honorarregeln und ein Finanzierungsmix aus Beitrags- und Steuermitteln benötigt.
Reden wir von Schwester Hildegard? Die Pflegediskussion benötigt eine Strukturierung, damit Fach- und Angehörigenpflege nicht weiter vermischt werden.
Im Bayerischen Fernsehen gibt es die Bürgersendung „jetzt red i“, in der neben Fachkundigen vor allem auch das breite Publikum im Studio zu Wort kommen. Am 12.10.2022 ging es um das Thema „Angst vor dem Alter – Droht uns der Pflegenotstand?“. Diese Sendung ist exemplarisch für das Kernproblem im „Pflegethema“: „Pflege“ wird mit „Alter“ gleichgesetzt. Gesundheitspolitische Akteure, Journalisten, teilweise auch Stakeholder aus dem Gesundheitswesen und die allgemeine Öffentlichkeit werfen die Nöte der pflegenden Angehörigen, Pflegedienstbetreibenden oder jungen Auszubildenden in einen Topf. Es werden vielfältige Aspekte diskutiert, die nicht zusammengehören, da sie häufig unterschiedliche Finanzierungsgrundlagen und Szenarien betreffen. Es wird nicht differenziert, obwohl sich die Belange der beruflich Pflegenden maßgeblich von den Interessen der Menschen unterscheiden, die als An- oder Zugehörige pflegen. So ist es für die beruflich Pflegenden relevant, ob und wie die generalistische Ausbildung weiterentwickelt wird, und für die pflegenden Angehörigen stellt sich die Frage, ob sie ein Gehalt für die Pflege erhalten sollten.
Ursache für diese Verflechtung: Das SGB XI mit seinem Titel „Pflegeversicherung“ war und ist irreführend, denn es regelt v. a. die Belange der Angehörigenpflege.
Es ist unerlässlich, das SGB XI unter einem passgenauen Titel wie „Nächstenpflege“* weiterzuentwickeln. Zudem sind die Interessen der beruflich Pflegenden, also der Fachpflege, in einem eigenen neuen SGB XIII zu regeln. Auf diese Weise erhält die Diskussion um die „Pflege“ die dringend erforderliche Struktur.
Verweise:
Sendung in der BR Mediathek: jetzt red i | 12.10.2022 : Angst vor dem Alter - Droht uns der Pflegenotstand? (br.de)
* Nächstenpflege | Sozialverband VdK Deutschland e.V.
Solidarität ist One Size-Größe! Eine Gesundheitsversicherung für alle (1/4).
Alle Parteien wollen das deutsche Gesundheits- und Pflegesystem entbürokratisieren sowie „effizient“ und sektorenübergreifend gestalten. Dafür ist die historisch gewachsene, parallele Versicherungsarchitektur der gesetzlichen und privaten Kranken- und Pflegeversicherung in Frage zu stellen, denn sie verursacht den Versorgungsdschungel, einen enormen Verschleiß von Ressourcen und die anhaltende Unfähigkeit, die Versorgungsstrukturen zu reformieren.
Im Grundgesetz ist die Wertevorstellung über die Würde des Menschen festgehalten. Diese wird über das Sozialstaatsprinzip und seine Säulen der Sozialen Sicherheit umgesetzt, zu denen die Kranken- und Pflegeversicherung gehören. Sowohl die Würde des Menschen als auch der Leistungsanspruch sind „angetastet“, wenn Beitragszahlende als zu versorgende Menschen z. B. keinen Pflegedienst oder Hausarzt bekommen oder nicht nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis behandelt werden, weil dafür in den Praxen keine Zeit ist. Ein Diabetes ist ein Diabetes und muss nach wissenschaftlichen Versorgungsstand und nicht nach Versicherungsstatus behandelt werden.
Die Potenziale der Digitalisierung bleiben heutzutage vielfach ungenutzt, da darunter vor allem ein besserer „Scanprozess“ der alten Versorgungsverträge verstanden wird. Ziel muss es jedoch sein, die Digitalisierung als Baustatik für ein sektorenübergreifendes und integriertes Versorgungssystem zu nutzen. Für die Realisierung einer modernen Versorgung ist eine Gesundheitsversicherung für alle erforderlich, denn nur so lässt sich fachlich, technisch und solidarisch eine barrierefreie Versorgung umsetzen. In einer „One Size“-Gesundheitsversicherung sind alle Menschen nach den solidarischen Grundsätzen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert. Sie können ihre Kasse frei wählen und für sie gilt ein einheitlicher Hauptleistungskatalog.
Krankenversicherungen sind keine Hollywoodschaukeln. Eine Gesundheitsversicherung für alle (2/4).
Stiftung Warentest, Focus Money und andere Bewertungsportale präsentieren „Testsieger“ – nicht nur bei Waschpulver, Bohrmaschinen und Hollywoodschaukeln, sondern auch bei Krankenkassen, als ob es sich bei der Gesundheits- und Pflegeversorgung um eine individuelle Kaufentscheidung der Kunden und Kundinnen handele.
Es gibt dabei zwei unterschiedliche „Wettbewerbe“: den langjährigen Wettbewerb zwischen den Systemen GKV und PKV und den seit Mitte der 1990er Jahre bestehenden Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen. Wettbewerb setzt jedoch gleiche Bedingungen voraus, die in der Gesundheitsversorgung mehrfach nicht vorliegen: Der Leistungskatalog der GKV-Kassen ist aus Gründen des Patientenschutzes und des Gleichheitsgrundsatzes zu ca. 98% identisch. Auch die privaten Krankenkassen finanzieren Leistungen, die sich aus selbigem Grund nicht grundsätzlich unterscheiden. Einfach gesagt, es besteht kein freier Wettbewerb um Versorgungsleistungen wie eine Chemotherapie.
Zudem haben die zwei Systeme GKV und PKV komplett unterschiedliche Rahmenbedingungen, wie v. a. beim Zugang zum PKV-System über eine erforderliche Gehaltshöhe und einen guten Gesundheitszustand, wohingegen die GKV alle Menschen versichern muss. Die gesetzlichen Krankenkassen sind Träger der Sozialversicherung. Als Körperschaften des öffentlichen Rechts wurden sie vom Staat mit ihrer Aufgabe betraut. Gesetzliche Kranken- und Pflegekassen operationalisieren „Solidarität“ u. a. über den einkommensabhängigen Versichertenbeitrag, den Gesundheitsfonds und finanzielle Ausgleichsverfahren untereinander.
So stellen sie sicher, dass jeder Mensch unabhängig seines „Portemonnaies“ krankenbehandelt und keine Kasse zahlungsunfähig wird, weil sie zu viele Versicherte mit niedrigen Einkommen und gleichzeitig einem hohen Versorgungsbedarf mit korrespondierenden Ausgaben hat. Während die GKV sich am Gemeinwohl orientiert, über das Umlageverfahren finanziert und mit dem Sachleistungsprinzip zur Wahrung des Arzt-Patientenverhältnisses stellvertretend für den Patienten, die Patientin zahlt, herrschen in der PKV Gewinnorientierung, Kapitaldeckungsverfahren und direktes Kostenerstattungsprinzip vor.
Die Leistungen der Gesundheits- und Pflegeversorgung sind keine „Ware“, die über Portale wie Stiftung Warentest geprüft und bewertet werden können. Sie sind Daseinsvorsorge und dienen der öffentlichen sozialen Infrastruktur.
One-Size für den Wechselfall* des Lebens. Eine Gesundheitsversicherung für alle (3/4).
Könnte eine Kasse ausreichen, wenn es aus ethischen Gründen nur eine Gesundheitsversicherung und einen Leistungskatalog für alle Menschen geben soll? In diesem Kontext würde auch der Kassenwettbewerb keinen Sinn mehr machen. Im Falle der Gesundheitsversicherung ist es nicht angezeigt, eine Einheitskasse ähnlich dem Konstrukt der Rentenversicherungsanstalt (korrekt - Deutsche Rentenversicherung) aufzubauen. Während die Rentenversicherung lediglich für die Auszahlung normierter Geldbeiträge zuständig ist, gestalten und verantworten die Krankenkassen seit über 100 Jahren die Versorgungsstrukturen und -angebote. Diese steuern sie auf Bundes- und Landesebene über Verträge und Preisverhandlungen gemeinsam mit den Leistungserbringern und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung wie Kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenhäusern, Anbieter der Pflege, Apotheken sowie den Unternehmen der Gesundheitsindustrie. Zusätzlich verantworten die Krankenkassen die Betreuung ihrer Versicherten. Ihre Servicequalität mit Bezug auf Erreichbarkeit, Freundlichkeit und individuelle Beratung ist das entscheidende Kriterium für die Versicherten, ihre Krankenkasse auszuwählen und bei Bedarf zu wechseln, da sie das „Vertrags- und Verhandlungsbackoffice“ nicht einsehen und auch nicht bewerten können. Dies liegt auch v.a. in der Natur der medizinischen Behandlung, auf deren Güte man sich verlassen können muss.
Die große Zukunftsaufgabe ist es, allen Menschen eine Hauptversorgung zu garantieren, die den Würdeanspruch des Grundgesetzes erfüllt. Das ist angesichts der stets viel größeren Angebotsmenge an Gesundheitsleistungen eine komplexe Aufgabe. Dabei gilt es, die vielfältigen Leistungen zu differenzieren in Bezug auf die solidarische (erster Gesundheitsmarkt) und private Finanzierung für z.B. freiverkäufliche Arzneimittel, individuelle Gesundheitsleistungen, Fitness und Wellness sowie Ernährung (zweiter und dritter Gesundheitsmarkt).
Mit Blick auf die begrenzten finanziellen Ressourcen und den beständig-rasanten medizinischen Fortschritt bedarf es einer Rückbesinnung und klaren Fokussierung auf das alte, aber stets aktuelle Liedgut, der solidarischen Absicherung über den „Wechselfall des Lebens.“
Verweise
* SWR4 Abendgedanken: Wechselfälle des Lebens
GKV und PKV im Reißverschlussverfahren transformieren. Eine Gesundheitsversicherung für alle (4/4).
Im ostfriesischen Norden steht die Ludgeri-Kirche, die online eine 3D-Kirchenführung anbietet. Zu besichtigen sind die Jahrhunderte mit ihren Stilepochen und Baunähten am Kirchenleib wie Langschiff, Querschiff und Hochchor. Ähnlich ist es mit dem Krankenversicherungssystem. Es begann mit dem Büchsenpfennig im Mittelalter und es folgten immer weitere menschengemachte Anbauten an der Absicherung bei Krankheit. Im Jahr 1883 spalteten sich die tausenden existierenden Krankenkassen mit Einführung der Bismarckschen Versicherungspflicht für erste definierte Bevölkerungsgruppen in ein gesetzliches (GKV) und ein privates System (PKV), das sich seit Jahrzehnten im Größenverhältnis 90 % GKV-Versicherte und 10 % PKV-Versicherte eingependelt hat. Der Einfluss der 10 % auf die strukturelle Reformfähigkeit des Systems ist immens. Deshalb muss die One-Size-Gesundheitsversicherung ein klares politisches Architekturziel für z.B. 2040 sein, da die Transformation langfristig und dornig sein wird und sich an dem klaren One-Size-Ziel ausrichten können muss.
Die One-Size-Gesundheitsversicherung ist nach den solidarischen Grundprinzipien der GKV angelegt und umfasst Leistungen der Krankenversicherung sowie fachpflegerische Leistungen, die mit Blick auf SGB V und SGB XI neu definiert werden. Die PKV wird als Krankenvollversicherer über ein langfristiges Reißverschlussverfahren in die solidarische Versicherung „eingefädelt“. Für die PKV-Unternehmen gibt es hierfür eine Transformationsstrategie mit zwei Optionen: a) Exit, d. h. das Vollversicherungsgeschäft wird aufgegeben oder b) die Krankenversicherungstätigkeit wird unter GKV-Rahmenbedingungen fortgeführt. Ein Stichtag für die Entscheidung wird festgelegt (z.B. 01.01.2030), damit die Transformation strukturiert erfolgen kann. Dazu gehören v.a. die Überführung der Altersrückstellungen in den Gesundheitsfonds, die Auflösung der alten PKV-Versicherungsverhältnisse und Überführung dieser in GKV-Versicherungsverhältnisse, das Ersetzen der Beihilfe durch einen Arbeitgeberbeitrag, das Unternehmens- und Personalmanagement sowie die Überführung der PKV-Versichertenbestände in den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich der GKV.
Die Anforderungen der Gegenwart und der Zukunft können nur in einem One-Size-System mit einer gut aufgestellten Kassenlandschaft bewältigt werden. Solidarität fordern vor allem der medizinische Fortschritt mit seinen immer teurer werdenden Behandlungen und zunehmend vorhersagbaren (!) Risiken durch die gentechnischen Entwicklungen ein als auch die demografische Alterung der Bevölkerung. Eine zeitgemäße Managementfähigkeit verlangt Kassen mehr als „Posteingang / Postausgang“ ab. Von den 97 GKV-Kassen haben etwa 60 Kassen weniger als eine Million Versicherte. Von den 50 PKV-Mitgliedsunternehmen sind 36 Krankenvollversicherer, von denen fünf Unternehmen rund 60 % des PKV-Versichertenbestands hosten. Schon die zunehmende Komplexität des operativen Geschäfts wird die Krankenkassenlandschaft weiter „faceliften“, auch kalt, d.h. ungesteuert. Eine Transformationsstrategie für einen „warmen Wandel“ ist besser.
Verweise
Online Kirchenführung
GKV Spitzenverband: Zahlen und Grafiken